Flächendeckende Einrichtung auf Beschluss von "ganz oben"

Anders als bei den Gastronomiekinos erfolgte die Einrichtung von Studiofilmtheatern im gesamten Land auf einen Beschluss des DDR-Ministerrates vom 28.12.1972 hin, in dem dieser verstärkten ideologisch-erzieherischen Einsatz von den Kinomitarbeitern forderte. Eine der sogenannten Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit mit Filmen aus sozialistischen Ländern: "Im Interesse einer höheren kulturpolitischen Wirksamkeit des sozialistischen Films sind nach dem Vorbild des Filmtheaters 'Studio Camera' der Hauptstadt der DDR Berlin in den Bezirksstädten sowie in den Zentren des gesellschaftlichen Lebens Studio-Filmtheater (ca. 20) einzurichten." In der vermutlich später zum vorliegenden Beschluss erstellten Argumentation präzisierte man die Funktion der Studios: "Die Studio-Filmtheater haben die Aufgabe [sic] sozialistische und andere Filmkunstwerke der Vergangenheit und Gegenwart zu vermitteln, zu propagieren und zu fördern. [...] Diese Theater sollen den ständigen Dialog zwischen Publikum, Filmschaffenden, Filmkritikern und Vertretern gesellschaftlicher Organe organisieren." Zudem sollten die Mitarbeiter der Studiofilmtheater eng mit den örtlichen Filmklubs, also Gruppen von Filmenthusiasten, zusammenarbeiten.

Studiokino Schwerin, eröffnet vor 1978; Quelle: Enz
Studiokino Schwerin, eröffnet vor 1978; Quelle: Enz

Diese Neuerungen mit politischem Ziel wollte man sich auch etwas kosten lassen: Ab 1973 sollten für Erwerb, Synchronisation bzw. Untertitelung spezieller Filme für die Studiokinos 0,4 Millionen Mark p. a. in den Haushaltsplan des MfK aufgenommen werden. Auf Bezirksebene plante man für den Zeitraum 1973–75 jährlich 1,5 Millionen Mark zusätzlich ein, um Kinos zu Studio-Filmtheatern umzubauen.

Die Berliner "Camera" als "Prototyp"

Das im Ministerratsbeschluss als Vorbild angegebene Filmtheater "Studio Camera" in Berlin war nicht durch Anweisung entstanden: In dem am 1. Oktober 1957 als "Die Camera" eröffneten und an französischen und polnischen Vorbildern orientierten Haus, das aus dem Wiederaufführungstheater "Aladin" hervorgegangen war, war zunächst ein "respektables Angebot an DDR- und Weltfilmkunst" gelaufen, darunter auch Filme des Staatlichen Filmarchivs, sowie nur kurzzeitig 1959 Veranstaltungen mit Einführungen und Gesprächen zu Filmen. Beigetragen zur Etablierung der "Camera" hatten neben der Initiative einzelner Filmbesessener auch die Fürsprache einflussreicher Personen aus Kultur- und Stadtpolitik. Nachdem 1962 das Staatliche Filmarchiv seine Verleihtätigkeit nach zweijähriger Pause wieder aufgenommen hatte, wurde die "Camera" zum reinen Archivfilmtheater umprofiliert. Sie zeigte thematische Reihen, Filmkünstler-Porträts, Länderüberblicke, Gattungs- und Genrebeispiele, aber auch aktuelle Filme aus anderen Staaten, die im normalen Kino nicht zu sehen waren. Nach diversen Umzügen fand das Programm ab 1972 seine Heimstatt in den ehemaligen "Oranienburger-Tor-Lichtspielen", die sich nun "Studio Camera" nannten (Becker/Petzold, S. 29, 40–42, 270–286).

Die "Prototypen" in der Provinz

Die Berliner "Camera" war zum Zeitpunkt des Ministerrats-Beschlusses keineswegs das einzige schon existierende und diesen Namen tragende Studiofilmtheater. In der sächsischen Hochschulstadt Freiberg war bereits 1963 ein Studio im "Turmhof"-Kino eingeweiht worden. Die "Turmhoflichtspiele" waren in einem ehemaligen Tanzsaal im ersten Obergeschoss untergebracht, im Parterre gab es eine Gaststätte. Laut Karl-Marx-Städter Bezirksfilmdirektor Klier bot sich der Einbau des Studiokinos ins Erdgeschoss an, und so schuf der Lichtspielbetrieb mit dem Umbau zu einem 60 Zuschauern Platz bietenden Klubraum mit gastronomischem Service einen Treffpunkt für den im Oktober 1963, also offenbar anlässlich der Studiokino-Eröffnung, gegründeten Freiberger Filmklub, einem der ersten im Bezirk Karl-Marx-Stadt.

Das Leipziger Studiokino im "Capitol" spielte seit Oktober 1970, und das am 7. Oktober 1972 eröffnete neu gebaute Dresdener "Filmtheater Prager Straße" ("Rundkino") bot neben Premieren und Unterhaltungsfilmen ebenfalls Filmkunst in einem Studiokino. Das erste Zwei-Saal-Lichtspielhaus der DDR war Teil des im Plattenbaustil errichteten Fußgängerboulevards Prager Straße, der wie die Neubauten der Karl-Marx-Universität Leipzig oder des Berliner Fernsehturms den "Aufbruch in eine neue Zeit" symbolisieren sollte. Zwischen 1965 und 1978 war der direkte Weg vom Dresdner Hauptbahnhof in die historische Altstadt zu einer "Erlebnisachse" umgestaltet worden: "Vier 11- bzw. 16geschossige Interhotels [...], Wohnhochhäuser, eine Großgaststätte, Restaurants und Ladenpavillons bilden die Bebauung, reizvoll von Wasserspielen, Plastiken und Grünanlagen belebt", beschreibt ein zeitgenössischer Reiseführer. In diesem Musterbeispiel moderner sozialistischer Architektur und Freizeitgestaltung durfte ein baulich wie inhaltlich repräsentatives Kino natürlich nicht fehlen.

Tanja Tröger 2004–2013